Rosa Thielmann setzte sich 10 Jahre ehrenamtlich für die Gründung der ersten demokratischen Schule in Frankfurt ein - vergebens. 2023 löste sich die Initiative, die kindgerechteres Lernen bis zur 10. Klasse ermöglichen wollte, endgültig auf.
Sie sitzt an ihrem langen weißen Schreibtisch, auf dem sich zahlreiche Dokumente und Akten häufen. Zwischen den vielen Stiften und farbigen Notizzetteln packt sie einen Batzen Flyer, auf dem ihr Kinder entgegenlächeln - und wirft ihn in den Müll. Zwei Flyer jedoch fischt sie wieder heraus. „Zur Erinnerung“, betrauert sie, mit wehmütigen Blick, und bettet sie in einer kleinen mit dem Kürzel „DSF“ beschrifteten Kiste.
DSF steht für Demokratische Schule Frankfurt, denn Rosa ist eine der vier Initiatorinnen gewesen, die sich 2013 zusammentaten, um eine gewagte Vision umzusetzen: Eine Schule zu eröffnen, an der Schüler intuitiv lernen, jederzeit spielen und mitreden können, ein Ort, wo Demokratie und Kommunikation auf Augenhöhe gelebt wird, wo sich alle - Kinder, Eltern und Lernbegleiter - wohlfühlen. „Wir wollten sie nicht als „Lehrer“ betiteln, sondern ganz bewusst als „Lernbegleiter“ bezeichnen, weil sie das Kind ja begleiten, inspirieren und ihm ein authentisches Vorbild sein sollten.“, erklärt Rosa. „Schließlich waren auch Handwerker, Tanzpädagogen und andere Berufe als Lehrpersonal eingeplant gewesen.“
Keine Noten, keine Klassen, keine Hausaufgaben
Es fällt nur seichtes Sonnenlicht in den recht großen Altbauraum, der als Schlaf-, Ess- und Arbeitszimmer umfunktioniert wurde und eine sechs mal zweieinhalb Meter hohe „Bibliothek“ beherbergt. Darin dekorieren sich Klassiker, viele Kinderbücher, aber auch medizinische, philosophische und pädagogische Wälzer. Die autodidaktische Kamerafrau und gebürtige Büdingerin brachte all ihr Knowhow ein, um die Mission Schulgründung in Frankfurt vorwärts zu bringen. „Traumschule nannte ich sie einmal spontan“, erzählt sie, während sie Fotos aus den Jahren der Ehrenamtstätigkeit auf dem Mac durchsieht. Dabei stößt sie auf eines, wo zwei albern posierende Kinder, ca. sechs und acht Jahre alt, vor großen mit Kreide gemalten Buchstaben stehen, die das Wort Traumschule bilden. „Meine zwei Kinder waren meine besten Supporter. Sie haben immer geduldig abgewartet, wenn ich wieder eine Sitzung online hatte, oder sie zu den Arbeitstreffen mitschleppte. Sie hatten zwar viel Spaß mit der Truppe, aber mussten auch für diesen Traum auf sehr viel Mama-Zeit verzichten.“ Rosa blickt zurück und erläutert, sie habe je nach Phase zwischen einem und vier Tagen in der Woche unentgeltlich für dieses Projekt gearbeitet, oder besser gesagt gebrannt: Infotage und Workshops, Flyer, Recherchen, Webseiten und Social Media... Inzwischen leidet sie unter Burnout und behauptet, sie mache „nichts mehr“. Aber weiterhin ist die 33jährige gesellschaftspolitisch aktiv, unterstützt Demonstrationen und Petitionen. Nebenbei schreibt sie über das, was sie bewegt, arbeitet als Bürokraft und bildet sich per Fernschule fort, um noch mehr schreiben zu können. Die Schulgründung hat sie wider Willen vor einem Monat offiziell auflösen müssen, weil in der Gruppe mittlerweile niemand mehr für das Ehrenamt so brannte wie sie.
Über 100 Seiten Konzept voller neuer Erkenntnisse
Das Schreiben und Debattieren in der Gründungsinitiative vermisse sie. Ständig waren Gesetze zu analysieren, Werbe- und Homepage-Texte zu verfassen, Emails zu beantworten, Vereinsprotokolle zu schreiben und natürlich das Schulkonzept auszuformulieren. „Wir haben zu Beginn viele alternative Schulen im In- und Ausland besucht, Interviews mit ehemaligen Schülern ausgewertet oder mit Experten und Eltern und natürlich Kindern gesprochen, um von allem das Beste in unserem Konzept zu vereinen und neueste Erkenntnisse aus der Forschung zu nutzen.“ Ihre grün-blauen Augen leuchten, wenn sie davon berichtet, der Idealismus flackert wieder auf.
Das Konzept kürzten sie für das Amt auf das Nötigste, ließen gleichzeitig viel demokratischen Freiraum. Zum Beispiel, dass Hausregeln per Schulversammlung beschlossen würden und nicht bereits fertig im Konzept stünden. Oder dass der Stundenplan auf Bedürfnisse und Entwicklungen der Kinder angepasst werde und nicht jeden Montag um x Uhr Deutsch anstünde. Während der Corona-Zeit erweiterten sie diese Seiten schon anfangs 2020 um Hygienekonzept und Lösungen bei eingeschränkter Begegnungs- und Lernzeit. Auch amtliche Verbesserungsvorschläge arbeiteten sie ein. Doch das alles half nichts.
Ein undurchdringlicher Dschungel an Vorgaben
„In Hessen müssen sich private oder freie bzw. alternative Schulen in den ersten drei Jahren komplett selbst finanzieren. Sie werden während dieser Zeit vom Schulamt kontrolliert und bekommen erst danach die Erlaubnis, sich als genehmigte Ersatzschule zu bezeichnen. Erst dann können sie gut planen und sozialverträgliche Schulplatzpreise bieten.“ Das sei ein ständiger Schulgründungsdschungel gewesen, bedauert Rosa. Sie und ihre Mitstreiter hätten endlose Gespräche und Verhandlungen geführt, Aufklärung und Vergleiche geboten, um den Verantwortlichen im Amt ihre Grundsätze und die systematischen Hürden klarzumachen: Für eine Genehmigung hätten sie gleichzeitig reichlich Geld, genügend Schüler, trotz Fachkräftemangel Lehrer und einen langfristigen Mietvertrag für ein genehmigtes Schulgebäude gebraucht, ein Ding der Unmöglichkeit - zumindest in Frankfurt, denn hier sind die Mietpreise horrend und selbst für staatliche Schulen ist der Mangel an Gebäuden seit Jahren ein Problem.
Wo kein politischer Wille da kein Weg
Eine vorläufige Genehmigung mit Auflagen hätte ihnen geholfen, zu überbrücken, doch das Amt sei zu skeptisch dafür geblieben. „Niemand traute sich, sich der Sache anzunehmen. Kaum Termine möglich, persönliche schon gar nicht, ständiger Verantwortungswechsel... Dabei war unser Konzept nicht sonderlich exotisch und trug alle Maßgaben des Staates in sich wie Inklusion, Medientraining, Aufklärung und Suchtprophylaxe, Demokratie vom allerfeinsten, die Sicherstellung, dass ein Schulwechsel jederzeit möglich ist.“ Sogar ein Kompetenzraster als Notenersatz legten sie vor, die Behörden sagten weder zu noch ab.
Die Aktivistin schüttelt den Kopf und löscht weiter Fotos, Dateien und Videos von der Schulgründungs-Cloud, auf der sie gemeinsam ihr erworbenes Wissen teilten.
„Jeder spricht davon, wie wichtig es ist, das Schulsystem zu reformieren, Mobbing vorzubeugen, demokratische Werte zu leben, Individuen zu fördern, Lernschwächen kreativ zu begleiten, aber wenn es am Ende eine Unterschrift und Vertrauen in eine Bewegung braucht, fühlt sich niemand zuständig. Mut ade.“, bemängelt sie resigniert. „Mit mehr Geld wäre mehr möglich gewesen, aber vielleicht ist das eine Illusion, die ich mir selbst erzähle.“ Ihre Augen sind mit einem Mal sehr leer, als sie aus dem Fenster schaut, wo ein paar Frankfurter Tauben vorbei düsen. Dann zuckt sie mit den Schultern und richtet ihr langes Haar zu einem wilden Dutt, der von einem Bleistift getragen wird. „Ein Unterstützer sagte mir, ICH sei NICHT gescheitert, es war eben eine Unmöglichkeit. Aber andere Initiativen haben es ja auch geschafft. In dieser Zeit haben in Gelnhausen und Michelstadt ähnliche Schulen eröffnet.“ Das schmerze und tröste zugleich. Trotz der Selbstvorwürfe wirkt ihre Geisteshaltung ungebremst: Weil sie wisse, dass es solche Schulen eben brauche, nehme sie sich vor, irgendwann diese Traumschule Wirklichkeit werden zu lassen. Vorerst müsse sie sich von den Strapazen der Strecke durch den Schulgründungsdschungel erholen, denn Ehrenamt ohne Lohn oder Anerkennung und schlussendlich ohne positives Ergebnis sei sehr zermürbend.
Soziokratie 2.0 und GFK
Auf dem langen Weg durch das Dickicht hätten sie und ihre Mitgründer jedoch sehr viel gelernt über Bildung, Schulsystem, Unternehmensstrukturen, Soziokratie und GFK. Soziokratie sei „verbesserte Demokratie“ und ganz praktisch im Alltag, beschreibt Rosa. Sie werde im Business bereits erfolgreich eingesetzt. GFK sei manchen als gewaltfreie Kommunikation geläufig, damit könne man seinen Standpunkt besser vertreten, ohne verbal zu verletzen. So käme man gemeinsam zu konstruktiven Lösungen. Ob beim Aufräumen mit den Kindern, bei neuen Schulregeln oder beim Streit mit dem Partner. „Nur funktioniert’s leider nicht bei amtlicher Schwerfälligkeit!“, lacht Rosa freimütig. Dass immer mehr Schulen kleine Aspekte ihrer Anliegen, wie „das Fach Glück“ oder „Lernen im Freien / mit Bewegung“, „mehr Mitbestimmung“ oder „Medienkompetenz“ einbauen würden, beruhige sie. Zwar sei das immer noch viel zu wenig und von der Demokratischen Schule Frankfurt weit entfernt, gleichzeitig sei es ein kleiner Lichtblick, resümiert Rosa, als sie mich aus der Tür begleitet.
System vs. Utopie
Wir gehen schweigend die knarzende Holztreppe hinunter. Ein paar Sonnenstrahlen erwischen uns im Hinterhof bei den Mülltonnen. Die hier wohnhaften Tauben huschen eilig hin und her. Rosa hebt den voll gekoteten Deckel der grünen Mülltonne an und wirkt so klein neben ihr. Sie spricht davon, dass das System schon weitaus besser sei als vor zehn Jahren. Damals begann sie aus Überzeugung, sich mit den unterschiedlichsten Leuten für das vereinte Ziel einer Schule, wo man einfach gerne hingehe, zu treffen.
Während sie den Papiermüll entleert und die Flyer mit den lächelnden Kindern in der Tiefe verschwinden, sinniert sie nihilistisch: „Manche Träume sind vielleicht zu groß und zerplatzen, andere träumt man immer wieder und kann sie nicht loswerden, sei es auch noch so sinnlos, und manche gehen einfach in Erfüllung - eines Tages.“
Als der Deckel zuknallt, bleibt ein muffiger Geruch zurück und wir verabschieden uns. Als Abschiedswort komprimiert sie ihre bittere Erkenntnis auf einen für sie erträglichen Nenner, denn sie
scheint bemüht, auch im Schlechten noch immer etwas Gutes zu finden: “Wichtig ist, sich trotz des Systems die Begeisterung für’s Lernen zu erhalten, egal ob jung oder alt. Dann hat die
Gesellschaft doch schon viel gewonnen, oder nicht?“
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